Wieso Energiekrise? : Österreichs Weg in die Erdgas-Import-Abhängigkeit

Wussten Sie, dass Österreich das erste Land in Westeuropa war, das 1968 einen Liefervertrag für Erdgas mit Russland abschloss?

Wussten Sie, dass Österreich das erste Land in Westeuropa war, das 1968 einen Liefervertrag für Erdgas mit Russland abschloss?

- © Bild: bluedesign - stock.adobe.com

Anlässlich der aktuellen "Energiekrise" hat die Österreichische Energieagentur die Geschichte der Abhängigkeit Österreichs von russischem Erdgas analysiert und untersucht, welche energiepolitischen Strategien, Entscheidungen und Maßnahmen zu der überdurchschnittlich hohen Gasabhängigkeit Österreichs geführt haben. In der Analyse "An der Gasleine. Zur Geschichte der Abhängigkeit Österreichs von russischem Erdgas", verfasst von Prof. Herbert Lechner, Österreichische Energieagentur, fließen diese Erkenntnisse zusammen.
Ein erster oberflächlicher Blick gibt eine vom heutigen Standpunkt aus nicht gerade glänzende Entwicklung zu erkennen: Der Anteil russischer Gasimporte am Gasverbrauch lag im Durchschnitt der Jahre 1968-1978 zunächst bei 45 %. Danach stieg er in einzelnen Jahren auf bis zu 80 % und ging erst mit den ersten Gaslieferungen aus Norwegen ab 1993 wieder etwas zurück. Für den Zeitraum von 2010 bis 2020 lag der Anteil der Importe aus Russland immer noch bei rund 60 %. Man will nun fragen: Wie konnte es soweit kommen, dass Österreich zu einem der Länder mit einer derart großen Abhängigkeit von russischem Erdgas wurde?
In der folgenden Zusammenfassung - angelehnt an "An der Gasleine. Zur Geschichte der Abhängigkeit Österreichs von russischem Erdgas" - wollen die Ergebnisse von Hr. Lechner aussprechen, was vielleicht nicht jeder gerne hören will.

Die Graphik zeigt den Verlauf der Gaslieferungen von Russland nach Österreich in den Jahren 1968–2020. In Summe ergeben sich dabei 218 Mrd. m3 Gas.

- © Bild: Österreichische Energieagentur

Wenn Erdgasimport als „privatwirtschaftliche Angelegenheit“ abgetan wird

Autor Herbert Lechner, ehemalige wissenschaftliche Leiter und Geschäftsführer der Österreichischen Energieagentur, weiß heute: „Ein wesentlicher Faktor für die Abhängigkeit Österreichs von russischem Erdgas war sicher, dass die politisch Verantwortlichen sich bereits ab den 1960er von einer energiepolitisch aktiven Rolle verabschiedet und sämtliche Aufgaben rund um den Gasimport als privatwirtschaftliche Angelegenheit an Unternehmen, in erster Linie die OMV, abgegeben haben."

Und daran hat sich de facto bis 2020, dem Ende des Untersuchungszeitraums der Analyse, nichts geändert.
Herbert Lechner

Wenn Warnungen vor einer Erdgas-Import-Abhängigkeit ungehört bleiben

Eine weitere Zutat für den Status quo der Gasimport-Abhängigkeit Österreichs sehen die Ergebnisse der geschichtlichen Aufarbeitung Lechners darin, dass, obwohl es bereits früh (genug) Warnungen gab, solche nicht gehört wurden: Die Gefahr einer zu großen Abhängigkeit von russischen Gasimporten sei bereits früh erkannt und von nationalen und internationalen Stimmen über Jahrzehnte immer wieder offen angesprochen worden. 1971 beispielsweise habe der damalige ÖVP-Nationalratsabgeordnete Siegmund Burger davor gewarnt, dass die österreichische Energieversorgung auf der Prämisse des Friedens aufgebaut sei. Auf die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten sei 2009 auch von den Grünen hingewiesen worden und ebenfalls das österreichische Außenministerium habe in seinem Bericht 2007 erkannt, dass „Russland seine Energiepolitik als machtvolles Instrument der Außenpolitik“ einsetze. Jedoch am deutlichsten sei die EU-Kommission in einem Paper aus dem Jahr 2008 geworden, wo „Gas als politische Waffe“ Russlands benannt worden sei.
Alle Warnungen seien vergeblich gewesen, seien diese doch ungehört geblieben. Sei unter Bundeskanzler Kreisky noch intensiv versucht worden, die Lieferländer zu diversifizieren - etwa durch Algerien -, so sei 1986 mit Norwegen der einzige Importvertrag abseits der russischen Lieferungen zustande gekommen. Danach hätten sich die Bemühungen weniger auf die Verteilung auf mehrere Lieferländer als auf die Diversifizierung der Lieferwege konzentriert. Auch das Nabuco-Projekt sei unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen gewesen - welches aber darüber hinaus vor allem einer Wirtschaftsoffensive in der Region des schwarzen Meeres gegolten hätte.

Was war das Nabuco-Projekt?

Das Nabucco-Pipeline-Projekt sah den Bau einer Pipeline vor, die Erdgas von Aserbaidschan bis in die Nähe von Baumgarten an der March in Österreich transportieren sollte, wo sich das zentrale Verteilerzentrum der OMV für Erdgas befindet. Das Projekt wurde auf „Nabucco-West“ reduziert, nachdem Aserbaidschan und die Türkei 2012 ein Abkommen über die Transanatolische Pipeline geschlossen hatten. Das Erdgas sollte von „Nabucco-West“ an der bulgarisch-türkischen Grenze übernommen werden, wo ein Abzweig der Südkaukasus-Pipeline bestanden hätte, und durch Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Baumgarten transportiert werden. Obwohl die EU das Projekt seit 2002 stark unterstützte, konnten sich die beteiligten Staaten nicht einigen. Als 2013 das Schah-Denis-Konsortium beschloss, die Transadriatische Pipeline (TAP) von der Türkei über Griechenland und Albanien nach Süditalien zu bauen, wurde das Projekt schließlich aufgegeben.*

*Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/... (abgerufen am 21.02.23)

War Österreichs Abhängigkeit eine Intention Russlands?

Für diese Frage sehen die Schlussfolgerungen von Herbert Lechner eine klare Antwort: Jüngste historische Analysen würden zeigen, dass Russland ein großes Interesse daran gehabt habe, Österreich in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu drängen. Österreich habe 1968 als erstes westeuropäisches Land einen Erdgasliefervertrag mit Russland abgeschlossen. Sei die damalige UdSSR anfangs noch sehr auf ihre Reputation als zuverlässiger Lieferant bedacht gewesen - ein Bestreben, das in der Ukraine und in den baltischen Staaten aufgrund tatsächlicher Mengenprobleme zum Ausruf der Devise „Frieren für den Export“ geführt habe -, habe sich die russische Strategie über die Jahre gewandelt. Einzelnen Ländern sei mit Lieferkürzungen gedroht oder deren Gasversorgung tatsächlich unterbrochen worden, Projekte für den Gasbezug von anderen Lieferanten seien unterlaufen (Nabucco) worden, und der russische Einfluss durch den Einkauf in westliche Gasinfrastruktur (Speicher Haidach) sei ausgebaut worden.

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Trifft Österreich eine Teilschuld?

An dieser Stelle findet von Lechner zur Sprache, was viele vielleicht nicht gerne hören wollen: In Österreich sei alles getan worden, um sich gegenüber Russland gut zu stellen und gleichzeitig die Neutralität als Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Schon vor der Aufnahme der ersten Gaslieferungen habe Österreich seine Position genutzt, um in Deutschland produzierte Großrohre, deren Export aufgrund des „Röhrenembargos“ für NATO-Mitglieder verboten gewesen sei, zu importieren und wiederum in die UdSSR zu exportieren: „Gas gegen Rohre“ habe die Devise gelautet. Wirtschaftliche Bedeutung habe nicht nur die Gaslieferungen selbst gehabt, sondern auch die damit verbundenen Gegengeschäfte, vor allem für die staatliche Industrie, wie beispielsweise die Gründung der VOEST-Tochter Intertrading AG im Jahr 1978 zeigen würde.
Dieses Primat der Ökonomie, gepaart mit der Verdrängung von Risikobedenken, setze sich bis in die jüngste Vergangenheit fort: Nur vier Monate nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim sei der russische Präsident Putin zu einem Staatsbesuch in Österreich empfangen worden - der erste Auslandsbesuch in einem EU-Land seit Beginn der ersten Phase des Angriffs auf die Ukraine. Zwischen 2001 und 2014 sei Putin drei Mal zu Gast in der Wirtschaftskammer Österreich gewesen - 2014 zum Beispiel, um mit der Unterzeichnung des Vertrags über die Gas-Pipeline South-Stream „Baumgarten zu einem zentralen Energieknoten Europas zu machen.“

Was hat die OMV mit der Österreichisch-Russischen Gasbeziehung zu tun?

Dass die OMV mit den russischen Erdgaslieferungen in Zusammenhang zu bringen ist, würden die meisten zu wissen meinen - gab es dazu in letzter Zeit geradezu ein mediales Überangebot an Information. Lechner will die Antwort der Frage folgendermaßen denken: Die OMV spiele in der österreichisch-russischen Gasbeziehung nämlich eine zentrale Rolle. Als Nachfolgerin der Sowjetischen Mineralölverwaltung SMV habe sie über die notwendigen Erfahrungen und Kontakte verfügt, um die Geschäftsbeziehungen weiterzuführen. Die Entscheidung der UdSSR, Erdgas zu exportieren, und der einfach vorzunehmende Anschluss der damaligen ostösterreichischen Gasinfrastruktur an die 1967 fertiggestellte Pipeline bis Bratislava hätten das konkrete „window of opportunity“ ergeben und hätten 1968 zum ersten Liefervertrag geführt. Auch die im Jahr 2000 begonnene Liberalisierung des europäischen Gasmarktes habe hierauf kaum Einfluss, da langfristige Verträge weiterhin möglich seien und das Transportgeschäft als natürliches Monopol geschützt sei. Personalentscheidungen wie die Berufung von Rainer Seele zum Geschäftsführer (2015) würden die starke Ausrichtung auf Russland bestärken. Es sei bekannt gewesen, dass Seele in seiner gesamten beruflichen Laufbahn engste Kontakte mit Russland gepflegt habe. Politik und Verwaltung hätten dem heute größten österreichischen Unternehmen dabei stets als gefälliger Begleiter gedient.

Wenn aus falschen Begründungen Dogmen werden

Interessant wirkt, wie sich Herbert Lechner erklärt, dass sich in einer Verharmlosung nationaler und internationaler Bedenken gegenüber einer starken Abhängigkeit von russischem Erdgas mit einer Zutat jahrzehntelanger mangelnder kritischer Reflexion von Begründungen für russisches Gas - sowie dieselben unkritisch tradiert wurden - der Grund für das Einschleichen von vier Dogmen finden lässt. Eine Analyse, die sozusagen das Gerinnen immer wiederkehrender "Argumente" in nicht mehr zu hinterfragenden, verbindlichen Glaubenssätzen sieht - als da wären:

  1. „Russisches Gas ist alternativlos für Österreich“
  2. „Russland ist ein zuverlässiger Lieferant“
  3. „Zwischen Russland und Österreich besteht eine gegenseitige Abhängigkeit“
  4. „Russisches Gas ist billig“
Mit diesen vier Argumenten hielt sich Österreich jahrzehntelang selbst an der, russischen Gasleine‘. Doch alle vier Begründungen lassen sich relativ schnell entkräften.
Herbert Lechner

, meint Lechner:„Ad 1. Das letzte Jahr hat deutlich gezeigt, dass entschiedenes politisches Handeln neue Realitäten schafft. Ad 2. Hier wird ausgeblendet, dass andere Länder sehr wohl von Lieferunterbrechungen betroffen waren und „Gas als politische Waffe“ nur solange nicht angewendet wird, solange politisches und wirtschaftliches Wohlverhalten aufrechterhalten wird. Ad 3. Es besteht eindeutig eine Asymmetrie in der Beziehung: Während Russland kurzfristig Lieferungen stoppen kann, kommt Österreich kurzfristig nicht ohne russische Energie aus. Ad 4: Verfügbare Daten und Studien lassen den Rückschluss zu, dass Österreich – ähnlich wie Deutschland – tendenziell im europäischen Durchschnitt sogar mehr für Gas bezahlt hat.

Fazit gibt Denkanstöße für die Zukunft - eine Forderung bleibt: „Roadmap für den Gasimport“

So weit so gut - wie sieht nun aber ein mögliches Fazit aus? Im Analysepapier "An der Gasleine. Zur Geschichte der Abhängigkeit Österreichs von russischem Erdgas" heißt es an dieser Stelle: „Insgesamt zeigt sich, dass die Politik die Wahl der Importrouten und damit die Versorgungssicherheit den privatwirtschaftlichen Interessen überlassen hat und diese Interessen auch die Risikobewertung beeinflusst und Warnungen negiert haben. Die entsprechenden Pläne wurden nach dieser Risikobewertung konzipiert und waren – so zeigt die aktuelle Realität – nicht für die Krise geeignet. Maßnahmen wie die Erhöhung der inländischen erneuerbaren Energieerzeugung, die Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen oder die Diversifizierung der Importländer wurden vernachlässigt und in Teilbereichen sogar aktiv verhindert.

Dies alles unterstreicht die Notwendigkeit für „Leitplanken für den Gasimport“ oder überhaupt eine „Roadmap für den Gasimport“ – nicht nur für Erdgas, sondern auch für erneuerbare Gase wie grünen Wasserstoff und seine Derivate.
Herbert Lechner

Damit spricht Lechner eine brandaktuelle Thematik an, gingen nicht erst kürzlich Gedanken um eine Wasserstoffimportmöglichkeit für Österreich ab 2030 resp. 2035 ihre Runden - wenngleich eine Diversifizierung dabei scheinbar mitgedacht werden möchte.

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"
Bio Fracking Gas - eine Lösung für Österreichs Autarkie?"

Dabei muss auch die Risikobewertung neu aufgesetzt werden (Methodik, Konsultation mit Stakeholdern, Art und Gewichtung der Risken, Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit).
Herbert Lechner
Nicht nur die technischen und ökonomischen Risiken wären aufzuzeigen und zu berücksichtigen, sondern auch die politischen Aspekte, inklusive der demokratiepolitischen und menschenrechtlichen Dimension.
Herbert Lechner

Die gesamte Executive Summary zum Analysepapier "An der Gasleine. Zur Geschichte der Abhängigkeit Österreichs von russischem Erdgas" finden Sie unter: https://www.energyagency.at/fi...

Sie sehen im Folgenden außerdem ein YouTube-Video, in dem Herbert Lechner die Hintergründe und Ergebnisse seiner Analyse zusammenfasst:

Gasimporte - Österreich, quo vadis?

Wenn die rekapitulierte Analyse von Prof. Herbert Lechner eines zeigen darf, so ein Rezept an Fehlverhalten, resp. wie man die Zukunft nicht gestalten sollte. Ein weiser Mensch hat einst gesagt: "Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten."*

*Auch wenn diese Person weise war, ob es Albert Einstein war, ist mindestens, wenn man der Profil Redaktion an dieser Stelle Glauben schenken darf, anzuzweifeln. Vgl. hierzu: https://www.profil.at/wissensc...(abgerufen am 21.02.23)

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